jeudi 30 avril 2015

Vom zersetzenden Gift der Zufriedenheit [Hamburg 2015]

Schluss! Aus! Nix mehr davon! Ich muss aufhören, mich verrückt zu machen! Ich werde einfach loslaufen. Es ist doch völlig egal, was am Ende dabei herauskommt. Ob 3:30, 3:20 oder 3:10. 3 Stunden wären sowieso hirnrissig. Wenn Hubert mit seiner Erfahrung und seinen 17 Minuten auf 5 km gerade mal 2:54 läuft, was sollen da solche Gedanken?! Nein, ich laufe einfach locker los. Scheiß was auf die Zeit! – Ich fühle mich jetzt schon deutlich entspannter. Das wär doch auch verrückt: Ich will eine neue Erfahrung machen, eine Herausforderung suchen, die – anders als im Job – nicht immer nur den Kopf beschäftigt, und mache mir nur noch Stress, weil ich die Erwartung an mich ständig nach oben geschraubt habe. Gut, dass ich noch rechtzeitig diesen Befreiungsschlag vorgenommen habe! Ich kann mich wieder auf morgen freuen, auch wenn ich nach wie vor höchst angespannt bin.

Dabei habe ich gut trainiert. Und viel. So viel wie nie zuvor. Sogar 100 km die Woche! Wahnsinn! Hätte vorher nie gedacht, dass das geht. Naja, nach zwei Hunderterwochen hat der Körper sich dann ja auch gemeldet. War schon besser, dass ich das Restprogramm dann runtergefahren habe. Der Jüngste bin ich ja nun auch nicht mehr. Klar, dass dieses Megaprogramm eine einmalige Sache ist. So viel Zeit kann ich da nicht ständig reinstecken. Die Familie war so schon am Rummurren. Sowas geht eben nur als Ausnahmesituation. Einmal und nie wieder! Danach wie bisher 3- oder 4-mal die Woche rumjoggen: das reicht dicke, um den Kopf freizumachen.

Diese Woche bin ich nochmal 35 km, davor 67 km gelaufen, so habe ich mich ganz gut erholt, und ich fühle mich fit für morgen. Hab mich auch an Steffny gehalten und die letzten 3 Tage kaum Fleisch und ordentlich viel Kohlenhydrate gefuttert. Morgen nach dem Lauf – ach Scheiße, nicht schon wieder dran denken! – werde ich mir auf dem Jahrmarkt eine richtig fette Bratwurst reinziehen. Aber erstmal muss ich sie mir verdienen. Ralf, Norbert und auch Thomas haben mir ja genügend vor Augen geführt, was da noch auf mich zukommt. Hauptsache, ich komme da heil durch! Nach 35 km muss das ja richtig heftig sein. Hoffentlich krieg ich keine Krämpfe und muss nicht stehen bleiben. Wär schon blöd! – Ich glaub, ich muss schon wieder aufs Klo. Hoffentlich pinkele ich die 3 Liter Wasser, die ich ganz brav getrunken habe, nicht komplett wieder aus. Morgen lasse ich garantiert keine Getränkestation aus. Hab ja gehört, wie wichtig das ist, ganz viel zu trinken.


Es ist kühl heute Morgen. Und trübe. Nachdem Hamburgs OB Olaf Scholz den Startschuss gegeben hat, laufe ich flott, aber dennoch verhalten über den roten Teppich und behalte dieses leicht gedämpfte Tempo auch an der Reeperbahn bei. Rechts entdecke ich meine Frau, noch bevor ihr suchender Blick mich bemerkt hat. Ich rufe ihr lautstark zu, sie erkennt mich, und ich bin – schwupps – auch schon vorbei. Ein Kontrollblick zur Uhr. Uups, das ist doch langsamer, als ich gedacht habe! Ich beschleunige ein wenig und schließe zu einigen auf, die sich vorher langsam entfernt haben.


Nächster Blick zur Uhr: Nein, richtig schnell ist das nicht. Ich befrage meinen Urin. Er bestätigt mir, ja, das ist das Tempo, das ich über die Distanz durchhalten kann. Also nicht noch schneller werden, kein Zeitziel vor Augen! Einfach gucken, was am Ende rauskommt! Die nächsten – und vor allem die letzten – Kilometer werden mir bestätigen, dass diese Entscheidung richtig ist.

Dummerweise habe ich meine Wasserflasche im Auto vergessen, als wir wie immer in Stellingen in die S-Bahn umgestiegen sind, und im Startbereich gab es nichts; dafür heißt die neuerdings im vornehmsten Marketing-Kauderwelsch „Athletes Area“. Ich merke schon zu Beginn, ich bin ausgetrocknet, muss trinken, schnappe mir an den Verpflegungsstationen jeweils einen Wasserbecher und bin froh, wenigstens die Trinkhalme dabei zu haben. Doch die Unterbrechung des Atemrhythmus spüre ich, atme heftiger, muss mich wieder finden.

Ein schwäbelnder Läufer neben mir schimpft über den leichten Nieselregen, der eingesetzt hat. Ich relativiere, rufe ihm zu, dass es so ganz okay sei. Er schimpft weiter. Dabei ist das fast ideales Laufwetter. – Noch deutlich vor der 10 km-Marke merke ich immer stärker, dass sich bei meinem linken großen Zeh etwas anbahnt. Der ist eh nicht normal, der Nagel schief und krumm, und nun drückt da was. Das wird eine schöne fette Blase geben. Kann ich jetzt aber auch nichts dran ändern.

High Life und Remmidemmi an den Landungsbrücken! Hier läuft es fast von selbst. Ein zweites Mal rufe ich meiner Frau zu. – Als es dann später in den Tunnel geht, kurz vor km 15, trifft mich fast der Schlag. Gott, ist das stickig hier! Ich habe das Gefühl, kaum Luft zu kriegen, und bin froh, als wir da endlich durch sind. Am Jungfernstieg vorbei nähern wir uns allmählich der Halbmarathonmarke. Meine Anfangsentscheidung, das Tempo nicht zu erhöhen, erweist sich zunehmend als richtig. Ich muss nun ordentlich arbeiten, um das Tempo zu halten. So locker flockig geht das nicht von der Hand, ääh vom Fuß. Beim linken drückt der große Zeh immer mehr und bereitet mir keine Freude.

Etwa ab der 20 km-Marke laufe ich fast gleichauf mit einer dänischen Läuferin und ihrem Begleiter, die vorher schon entschwunden schienen. Eine ganze Zeitlang bewegen wir uns praktisch im gleichen Tempo. Ich nehme das wahr, aber ich konzentriere mich anders als sonst nur auf mich, lasse mich durch die Läufer um mich herum nicht beeinflussen, achte nur auf meinen eigenen Körper und meinen eigenen Laufrhythmus. Ich bin darauf bedacht, bei aller Anstrengung, die dieses Rennen bedeutet, in einem Rhythmus zu laufen, den ich noch als passend, als durchhaltbar bis zum Ende empfinde.

Ja, ich schaue ab und an auf die Uhr. Ich rechne auch etwas herum, was da wohl am Ende herauskommen könnte. Ich denke an Zeitgrenzen, die ich einhalten will, aber ich ertappe mich auch zunehmend dabei, dass ich mir sage, dass das eigentlich auch egal sei und letztendlich keinen interessiert, ob ich nun einen willkürlichen Wert einhalte oder um einige oder auch viele Sekunden überschreite. Dann wiederum ermahne ich mich, mich nicht zu sehr hängen zu lassen.

Besonders die 5 km zwischen den Schildern 25 und 30 werden hart, weil es noch so weit ist und ich die Belastung deutlich spüre. Als ich das km-Schild 30 hinter mir weiß und mehr noch, als ich km 32 passiere, richtet mich das merklich auf. Jetzt ist der Rest greifbar. Noch 10 km, das ist eine Standardrunde, die bin ich schon ewig und 3 Tage gelaufen. Das geht immer. Und ich zähle jeden gelaufenen km herunter, führe mir vor Augen, wie überschaubar doch die Reststrecke nun ist. Diese Selbstmotivation gibt mir merkwürdigerweise mehr Power, mehr Zuversicht als die Massen, die in bewundernswerter Weise die Läufer beklatschen, ermuntern, ihnen zujohlen, und dies ganz besonders, als die Rennstrecke am Eppendorfer Baum etwas enger wird und die müde gelaufenen Marathonis noch einmal kräftig gepusht werden.

Als ich hier durch bin und an der Außenalster den 38. km hinter mir habe, bin ich wieder mit mir im Reinen. Die Beine tun weh, der hintere Oberschenkel rechts zieht, der große Zeh links ist ein einziger Schmerzklumpen, den Sauerstoff sauge ich heftig in mich hinein, aber es sind nur noch 4 Kilometer bis ins Ziel. Nur noch 4 Kilometer! Und jetzt ziehe ich den Schritt durch, achte nicht mehr auf das Gefühl, ob das durchzuhalten ist. Nun weiß ich, den kümmerlichen, verbliebenen Rest der Strecke werde ich in diesem Tempo durchlaufen. Den Blick habe ich nach vorne gerichtet, fixiere das Straßenpflaster vor mir, aber aus den Augenwinkeln heraus nehme ich wahr, dass ich nun doch noch an etlichen vorbeilaufe, die sich über die Strecke quälen.

Die leichte Steigung zum Ende hin macht mir nichts aus, mit nahezu gleichbleibendem Tempo eile ich dem Ziel entgegen. Ich drücke in der letzten Kurve den km 42 ab und kann direkt vor mir die große Zieluhr erkennen. Ich sehe, wie sie Sekunde um Sekunde hochzählt. Ich kann noch rechnen. Ich weiß, wie viele Sekunden ich am Anfang bis zur Startmatte gebraucht habe, weiß auch genau, wie viele Sekunden ich noch Zeit habe. Mir ist klar, es wird knapp, aber es ist machbar, und dieses Wissen löst auf den verbleibenden 195 Metern einen letzten Temposchub aus. Ich fliege geradezu auf das Ziel zu. Ich erreiche es, bevor die Uhr umspringt.


Geschafft! Ich bin im Ziel! Wahnsinn! Ich bin happy, nein regelrecht euphorisiert. Alles hat geklappt. Perfekt geklappt. Was hatte ich vorher nicht alles gehört! Hammermann! Nach 35 km geht nichts mehr. Quatsch! Totaler Quatsch! Im Gegenteil! Gerade zum Schluss hin lief es super. Ab km 30 mehr und mehr Läufer, die gingen oder gar standen, die Krämpfe hatten. Auf diesen letzten Kilometern lief es phantastisch. Ich war sogar auf der 2. Hälfte schneller als auf der ersten. 1:34:17 h, dann 1:33:18 h. 3:07:35 h für meinen ersten Marathon! Booaah, damit hätte ich nicht gerechnet. Platz 218 in meiner Altersklasse M45 habe ich damit erreicht, bin damit im ersten Fünftel. Mit Platz 1.712 auch im Gesamtfeld aller Männer unter den ersten 20%. Sagt jedenfalls die vorläufige Ergebnisliste, die nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Wände füllt.

Schade nur, dass es nun wohl etliche Wochen dauern wird, bis ich im Briefkasten endlich die offizielle Ergebnisliste und meine erste Finisher-Urkunde vom Shell-Hanse-Marathon finden werde. Aber klar, das muss ja auch alles ausgewertet und gedruckt werden. Das braucht halt seine Zeit. – Nachher wird erstmal gefeiert. Das hab ich mir verdient. So ein Erlebnis werde ich wohl nie wieder haben. So viel Zeit der Vorbereitung! Obwohl: toll wär’s schon, das zu wiederholen. Es müssen ja nicht wieder 100 km in der Woche sein, und die Zeit muss auch nicht nochmal so schnell sein. Jedenfalls: wenn ich einen weiteren Marathon laufen sollte, dann wär es in Hamburg. Diese Stimmung, diese Zuschauer!

Und im weiteren Verlauf des Tages, nein des Abends beschließe ich: ja, ich werde nächstes Jahr wieder dabei sein. Ich setze noch einen drauf: Ich werde versuchen, hier in Hamburg, mit dieser tollen und emotionalen Atmosphäre, 5-mal hintereinander zu laufen. Das erste Mal habe ich ja schon geschafft. Super Sache auch, dass man in Hamburg kostenlos seine Wunschnummer bestellen kann. Wenn ich tatsächlich das 5. Mal hintereinander dabei sein sollte, dann lasse ich mir 1999 die Nummer 5555 geben.


und aus diesem „5-mal hintereinander“ wurden dann sogar 10 Teilnahmen in direkter Folge, von 1995 bis 2004. Das Training dafür wurde nicht weniger, sondern mehr und intensiver, und die Zeiten wurden schneller. Ich lernte, das in einen fordernden Job und in das Familienleben zu integrieren, aber ich hatte auch das Glück, dass meine Familie und speziell meine Frau viel Verständnis dafür aufbrachten. Die Fahrt zum Hamburger Marathon war in diesen Jahren stets ein Familienereignis. Meine Lieben standen und klatschten an der Strecke und empfingen mich im Ziel, nicht ganz ohne Stolz, was der Papa da vollbracht hatte.

Als ich am 30. April 1995 meine Marathonpremiere erlebte, war ich 44 und lief das erste Jahr in der M45. In diesem Jahr, zum 20-jährigen Jubiläum, bin ich frisch in die Altersklasse M65 gewechselt. Ich hatte mir kein festes Ziel vorgenommen, aber 3 Szenarien in Betracht gezogen. Gern wäre ich noch einmal unter 3 Stunden eingelaufen, aber dass ich das nicht drauf hatte, war mir recht schnell klar. Das – mir sicher erscheinende – B-Ziel war eine Zeit unter 3:05 h, und das Minimalziel lautete: schneller als bei der Premiere, also eine Zeit unter 3:07:35 h.

Das Minimalziel blieb ungefährdet, aber mein B-Ziel erwies sich als schwerer als erwartet, und lange schien es, als würde ich es verfehlen. Erst auf den letzten 195 m, die umspringenden Sekunden auf der großen Zieluhr ständig im Blick, erreichte ich mit 3:04:56 h eine Punktlandung. Gegenüber der Premiere konnte ich mich um 217 Altersklassenplätze verbessern. Damit kann ich eigentlich ganz zufrieden sein.



Eigentlich“ ganz zufrieden! Heute, am 30. April und vier Tage später, exakt 20 Jahre nach meinem Premierenmarathon, verspüre ich eine gewisse Unruhe. Ich bin zufrieden, aber irgendwie auch nicht. Gewiss, das Ergebnis ist unterm Strich okay, aber ich weiß auch, dass es hätte mehr sein können. Sicher: Eine Zeit unter 3 Stunden war definitiv nicht drin, 7 Sekunden pro km ist eine ganze Menge, eine zu große Menge. Aber 2 bis 3 Minuten, das hätte gehen müssen. Zum einen schließe ich das aus den Unterdistanzzeiten, die ich aus dem Training heraus gelaufen bin. Zum anderen aber habe ich – ganz anders als bei den sonstigen schnell gelaufenen Marathons – keine harten Oberschenkel. Sonst bin ich immer einige Tage wie Robocop durch die Gegend geschlichen. Diesmal schienen mir die Treppen der Welt zuzurufen: Komm, ich bin deine Freundin! Und meine Beine antworteten im Duett: Halleluja, ja, so sei es!

So im Nachhinein betrachtet, wollte ich wohl gut und schnell rennen, mich auch anstrengen und fighten, aber mich auch nicht total quälen. Und das geht nicht: Nur durch die innere Programmierung, sich – wenn es hart wird - 120% zu quälen, ist das Optimum abrufbar, 95% reichen nicht! Ein wenig ärgere ich mich über mich selbst. Ich hätte mehr draus machen können. Auch wenn es nicht leicht fällt, diese Bereitschaft nach 20 Jahren immer noch aufzubringen!

Bernd


Vom zersetzenden Gift der Zufriedenheit [Hamburg 2015]

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